Buchankündigung: Die Medizin der Maya

Von Doris Braune

Veröffentlichung: Ende 2022

Wir freuen uns das neueste Buch des Bellis-Verlages anzukündigen. Ende 2022 wird das „Die Medizin der Maya“ veröffentlicht. Lesen Sie hier bereits das Vorwort:

Vorwort

Als ich 1999 privat nach Chiapas im Süden von Mexiko in die Stadt San Cristobal de las Casas reiste, fand ich im Touristenzentrum der Stadt zufällig einen Flyer der Organisation OMIECH. Später erfuhr ich, dass OMIECH in dieser Zeit von der Organisation „Brot für die Welt“ unterstützt wurde, und so Mittel vorhanden waren, um zum Beispiel diesen Flyer zu drucken. OMIECH ist die Abkürzung für Organización de Médicos Indigenas del Estado de Chiapas, A.C. San Cristobal de las Casas, Mexico und bedeutet: Organisation der indigenen Ärzte und Ärztinnen des Bundesstaates Chiapas, was heißt, sie sind keine Mediziner*innen im schulmedizinischen Sinne, sondern Kundige in ihrer traditionell überlieferten Medizin der Maya. Spontan änderte ich meine Reiseroute, um das Zentrum zu besuchen. Als ich dort darum bat, einen Einblick in die Arbeit der indigenen Ärzt*innen zu bekommen, konnte ich erleben, dass in den indigenen Gemeinschaften der Tausch, und nicht die Warenwelt des Kapitalismus lebendig ist. Nur auf mein Versprechen hin, in Deutschland über das Zentrum zu berichten, durfte ich an einem dort stattfindenden Heilkräuterkurs und der alltäglichen Arbeit teilnehmen.

Micaela Ico Bautista – Koordinatorin des Frauen- und Hebammenbereichs

Am letzten Tag im Zentrum OMIECH lernte ich eine der Frauen aus dem Frauen- und Hebammenbereich kennen, die im Laufe der kommenden 23 Jahre meine Kontaktperson zu OMIECH, meine Freundin und Schwester im Geiste werden sollte. Ihr Name ist Micaela Ico Bautista, und nach all den Jahren unserer Freundschaft kann ich sagen, dass Micaela sich mit all ihrer Kraft dem Erhalt und der Weiterverbreitung des traditionellen indigenen Heilwissens der Region Chiapas widmet. Sie berichtete mir damals, dass sie zum Beispiel Familienplanung durch Kräutertees praktizieren und in den umliegenden Dörfern die Frauen entsprechend informieren und aufklären. Mit dem Herzenswunsch, eines Tages einige der Frauen für einen Austausch hierher nach Deutschland einladen zu können, reiste ich zurück.

So kam im Stuttgarter Feministischen Frauengesundheitszentrum dieser Wunsch immer wieder auf die Tagesordnung, lange Zeit aber obsiegte die Ängstlichkeit, ob wir ein so – auch finanziell – großes Projekt tatsächlich stemmen könnten. Denn wir waren damals nur sechs aktive Frauen, die diese Projektarbeit weitgehend ehrenamtlich und neben unserer jeweiligen Praxistätigkeit machten. Als Anfang 2006 schließlich unsere zuversichtliche Seite die Oberhand gewann, luden wir drei Frauen von OMIECH ein. Wir organisierten zehn Veranstaltungen in Volkshochschulen, Familienbildungsstätten, Heilpraktikerschulen, der Frauenakademie in Stuttgart und einen zweitägigen Workshop für Heilpraktiker-Kolleginnen und Hebammen.

Zu Besuch in Stuttgart waren dann drei Maya-Frauen: Zwei Begleiterinnen, die die Medizin ihres Volkes gut kennen und zum Beispiel organisatorisch unterstützen, und eine eigentliche curandera, Margareta Perez-Perez. Da auch ihre Mutter schon Hebamme gewesen war, hatte sie von Kindesbeinen an das alte indigene Heilwissen vermittelt bekommen.

Welche Arbeit leistet OMIECH?

OMIECH ist eine Organisation, in der sich in den 80er Jahren indigene Männer und Frauen der Region zusammengeschlossen hatten, die als Kräuterheilkundige, Hebammen, Produzent*innen von Heilmitteln und Heiler*innen tätig waren und sind. Sie bekommen vom mexikanischen Staat keinerlei Unterstützung. Im Gegenteil mussten sie vor allem in den ersten Jahren öffentlich geäußerten Abwertungen standhalten, die sie als „Hexer“/ „Hexen“ diffamierten, und ihre Medizin als schmutzig und gefährdend verunglimpft hatten. Außerdem war und ist die ökonomische Situation des Zentrums und auch der Heiler*innen prekär, denn die indigenen Einwohner*innen Mexikos sind zumeist die Verlierer*innen auf dem internationalen Arbeitsmarkt. Die Entlohnung zum Beispiel für die Kaffeepflücker*innen, aber auch für den Verkauf von angebauten Nahrungsmitteln oder Kunstgewerbe (ein traditioneller Bereich, in dem die Frauen Geld verdienen) ist so niedrig, dass die Familien davon kaum leben, geschweige denn medizinische Dienstleistungen bezahlen können. So werden beispielsweise die traditionellen Hebammen, wenn überhaupt, in Naturalien bezahlt. Damit lässt sich aber ein bestimmtes technisches Niveau (Internet, Strom, Telefon, Druckerzeugnisse, etc.) nicht bezahlen. Die Heiler*innen, die auch curanderas/ curanderos genannt werden (im weiteren Artikel nur noch curanderas), sind keine Ärzt*innen im schulmedizinischen Sinne. Einige von ihnen haben nie eine Schule besucht, viele sind Analphabet*innen. Ihr medizinisches Wissen wurde ihnen mündlich und praktisch weitergegeben.

OMIECH arbeitet nicht nur daran, dass das traditionelle indigene Heilwissen nicht verloren geht, sondern auch daran, dass es sich verbreiten und entwickeln kann. Im Zentrum von OMIECH gibt es ein Museum, in dem altes Heilwissen und die Geburtshilfe ausgestellt sind, es gibt einen Heilkräutergarten und einen Bereich für die Frauen und Hebammen. Die traditionelle Medizin der Maya arbeitet mit Pflanzenheilkunde, Pulsdiagnostik, Schwitzhütten und schamanischen Ritualen, wobei hier das Wesentliche Gebete sind. Innerhalb der Organisation sind die Fähigkeiten der Heiler*innen in fünf Bereiche eingeteilt. Dabei kann eine Person auch Fähigkeiten in mehreren Bereichen haben:

Die fünf Bereiche/ Spezialisierungen in der Organisation OMIECH:

  • J`ilo Heiler*in, der/ die den Puls fühlt
  • Kòponej witz Heiler*in, der/ die in den Bergen betet
  • Tzak`bak Heiler*in, der/ die die Knochen kennt
  • Ac`vomol Heiler*in, der/ die Pflanzen kennt
  • Jve`tòme Hebamme

Der Frauen- und Hebammenbereich wurde 1985 gegründet. Weil sich bei den indigenen Frauen ein großes Interesse an der traditionellen Heilweise der Maya und der Geburtshilfe entwickelt hatte, und sie sich eine schulmedizinische Behandlung gar nicht leisten konnten und bis heute nicht können. Beratung, Behandlung und Unterstützung bezieht sich nicht nur auf Frauenerkrankungen und Geburtshilfe, sondern umfasst auch Geburtenkontrolle durch Pflanzen und die Gesundheit der Frauen insgesamt. Dies alles ist offen auch für nicht indigene Frauen. 1999 organisierte OMIECH allein im Bereich der Geburtshilfe die Arbeit von 56 Hebammen in 13 der teilweise mehrere Stunden entfernt liegenden Gemeinden im Hochland von Chiapas. Heute, 23 Jahre später, sind viele der alten Hebammen nicht mehr da, und die Arbeit von OMIECH umfasst nur noch neun Gemeinden im Hochland.

Für die oft unter prekären Verhältnissen lebenden indigenen Frauen ist es jedoch sehr wichtig, dass sie bei Geburten, aber auch Geburtenkontrolle und Frauenerkrankungen, unterstützt werden, und dies in einer würdevollen Weise.

Familienplanung

Unbestreitbar lässt sich der Wert einer Frau in einer Gesellschaft daran erkennen, inwieweit sie über die Anzahl ihrer Kinder selbst entscheiden kann. Je patriarchaler eine Gesellschaft ist, umso rechtloser sind darin die Frauen, und umso mehr wird jede einzelne Frau zur Gebärmaschine reduziert. Umgekehrt kommt hier der Aufklärung über den weiblichen Körper, über Menstruation und Fruchtbarkeit eine Schlüsselfunktion für einen emanzipatorischen Prozess zu.

Die Frauen von OMIECH gehen in die oft weit abgelegenen Dörfer. Dort versammeln sie die Frauen und vermitteln ihnen Wissen über deren Körper, den Zyklus, die Empfängnis und Wissen über Pflanzen, mit denen Familienplanung möglich ist. Zu meinem Erstaunen tauchte dabei eine Pflanze auf, die den Phytotherapeut*innen hier ebenfalls sehr bekannt sein dürfte: die Weinraute (Ruta graveolens). Sie verwenden sowohl die ursprünglich aus Europa stammende Weinraute (Ruta graveolens) als auch die mexikanische Schwester (Ruta chalepensis). Schon vor 1000 Jahren, in der Zeit von Hildegard von Bingen, wurde beschrieben, die Weinraute eigne sich bei Männern zur Triebdämpfung, bei Frauen aber rufe sie „unkeusche Begier“ hervor. Heute ist bekannt, dass die Weinraute eine östrogenisierende Wirkung hat. Für die Familienplanung setzen die Frauen und Hebammen von OMIECH die Weinraute in folgender Weise ein: Sie kochen am dritten oder vierten Blutungstag (wenn nur noch eine schwache Blutung vorhanden ist) einen Liter eines starken Tees mit Weinraute. Darin wird noch eine Kugel traditionell hergestellter Schokolade aufgelöst (Kakaobohnen spielen in der Maya-Medizin eine wichtige Rolle). Die Frau trinkt alles auf einmal und wiederholt es jeden Monat in der gleichen Zyklusphase. Die Verhütungssicherheit dieser Methode ist der hier üblichen Antibaby-Pille sicherlich unterlegen. Der Unterschied aber ist, dass die so verhütenden indigenen Frauen auf ihren Körper und die Zeichen der Fruchtbarkeit viel mehr achtgeben – und achtgeben müssen. So sind sie eigenverantwortlicher als westliche Frauen, die von Kindesbeinen an eine „Bevormundungsmedizin“ gewöhnt werden und im Allgemeinen fest daran glauben, dass nur der*die Ärzt*in im weißen Kittel imstande ist, festzustellen, ob sie gesund oder krank sind. Davon abgesehen hat die Familienplanung durch die Antibaby-Pille stärkere gesundheitliche Nebenwirkungen, die bei der Verhütung mittels Pflanzen nicht auftreten.

Schwangerenbetreuung und Geburt

Bei den indigenen Frauen geht eine Frau, wenn sie weiß, dass sie schwanger ist, zusammen mit ihrem Mann zur Hebamme und bittet sie um ihre Hilfe. Viele der alten Hebammen sind auch Heilerinnen – curanderas. Die Hebammen machen bei der Schwangeren eine Pulsdiagnostik. Dabei können sie den seelischen Zustand der Schwangeren und des Kindes spüren. Mit einem Kerzenritual und Gebeten nimmt die curandera nun Kontakt auf mit der Seele der Schwangeren und ihres Kindes. Sie bittet um Schutz für Mutter und Kind. Wenn die curandera vor allem am Ende der Schwangerschaft fühlt, dass das Kind nicht richtig liegt, wird sie mittels Kräutertees, einer Drehung des Kindes von außen und Bittgebeten das Kind richtig im Geburtskanal positionieren. Bei der Geburt kniet die Gebärende vor ihrem Mann, der auf einem Stuhl sitzt und sie hält. Wenn dann das Kind kommt, kniet sich die Hebamme hinter die Gebärende und nimmt das Kind in Empfang. Die Gebärende bleibt während der ganzen Geburt mit Rock und Bluse bekleidet, lediglich Beengendes hat sie abgelegt. Die Hebamme macht zu keinem Zeitpunkt der Schwangerschaft oder der Geburt eine vaginale Untersuchung.

Was ist Aberglaube, und was nützt ein Blick über den Tellerrand?

Bei den Veranstaltungen 2006 in Stuttgart stießen die Berichte der curandera und Hebamme Margareta Perez-Perez immer wieder auf ungläubiges Staunen: Wie kann eine Geburt gut verlaufen, ohne dass vorher ultrageschallt wird, ohne dass vaginal untersucht wird und ohne dass Geräte und Apparate Sicherheit schaffen? Und sind die Bittrituale, die die Seele des Ungeborenen und der Mutter göttlichem Schutz unterstellen, nicht der reine Humbug?! Irritiert waren die Zuhörer*innen auch davon, dass bei den Bittritualen Eier, Hühner und Limonaden als Opfergaben eine Rolle spielen. Die curandera konnte umgekehrt die Zweifel der Zuhörer*innen daran, dass es eine göttliche Macht gibt, die uns Menschen beisteht, gar nicht verstehen. So staunten wir übereinander – und über uns selbst, weil sich durch die Sicht von außen der Blick auf die eigene, für selbstverständlich gehaltene, Kultur relativierte.

Der unterbewusste koloniale Blick

Im Jahr 2021, mit dem Mord an dem schwarzen US-Amerikaner George Floyd und einer Spaltung in vielen Gesellschaften bis hin zu furchtbaren Bürgerkriegen, hat diese Diskussion neu begonnen. Mit Black Lives Matter (BLM, englisch für Schwarze Leben zählen) und dem Hinterfragen der Privilegien von Menschen mit weißer Hautfarbe, sozialisiert in der Mittel- oder Oberschicht westlicher Industrienationen.

Nach über 20 Jahren der Freundschaft mit Menschen wie Micaela Ico Bautista aus dem indigenen Projekt OMIECH und meinen Erfahrungen, wie es ist, wenn unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt aufeinandertreffen, bin ich besorgt. Denn selbst viele sehr engagierte Menschen gegen Rassismus, Faschismus und Sexismus hinterfragen ihre Positionen und ihre Sicht auf die Welt in vielen Bereichen in keiner Weise. Speziell beim Thema der Gesundheitsversorgung habe ich im Zusammenhang mit den Reisen der curanderas häufig erlebt, dass die in der westlichen Welt sozialisierten Menschen, vor allem aus der Mittelschicht, ihre Koordinaten für die Betrachtung des Lebens nicht hinterfragen. Als ordentliche Medizin gilt nur das an den Universitäten gelehrte Medizinkonzept, der, wie sie sich selbst bezeichnet, Schulmedizin. Alte indigene Praktiken, zum Beispiel in der Geburtshilfe, werden mit großer Skepsis betrachtet und ein bisschen in dem Stil: „Lasst uns für die Armen sammeln und ihnen zumindest viele gute Tipps geben“ (beispielsweise: „Verwendet Handschuhe in der Geburtshilfe“ – und dies, obwohl traditionelle indigene Hebammen niemals vaginal untersuchen). Gleiches gilt für den Umgang mit der Natur, mit der Welt. Die Philosophie der Kosmovision der Maya ist zutiefst antikapitalistisch. Es gibt, bezogen auf die Natur, keinen Privatbesitz: weder an Heilpflanzen, noch an Wasser, noch an dem, was auf dem Acker gedeiht. Diese ur-antikapitalistische Haltung kommt aus einem spirituellen Denken, in dem wir Menschen als Teil der Natur gesehen werden und Teil einer göttlichen Ordnung sind. Gerade die durch den Kapitalismus geprägten Menschen sind sehr skeptisch gegenüber einer solchen spirituellen Weltsicht, und, das ist das Tragische, viele beurteilen das Denken der indigenen Menschen aus einer Haltung der Überlegenheit. Die kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaften, zu denen auch der Staatskapitalismus chinesischer oder russischer Prägung gehören, haben große technische Fortschritte geschaffen – von der Marsmission bis zur Genschere und Transplantationsmedizin. Aber haben sie dadurch das Leben der Menschen auf diesem Planeten verbessert?

Leben wir dank moderner Medizin länger? – Und besser?

Stereotyp wird behauptet, die heutige moderne Medizin würde es ermöglichen, dass Menschen immer älter werden. Ich frage mich: Mit welcher Lebensweise und welcher Zeit wird das verglichen? Soweit ich weiß, haben Menschen ein biologisch mögliches Lebensalter von circa 122 Jahren. Es gab schon immer Regionen auf diesem Planeten, wo die Menschen diesem möglichen Lebensalter sehr nahekommen oder gekommen sind – beispielsweise auf der japanischen Insel Okinawa, in Abchasien im Kaukasus, auf der griechischen Insel Ikaria, auf der Karibikinsel Guadeloupe, im Inselstaat Barbados, der Halbinsel Nicoya in Costa Rica, in der Provinz Ogliastra auf Sardinien usw. Auch meine Freund*innen von OMIECH haben mir berichtet, dass laut des alten Wissens der Maya die Menschen – und das ohne das heutige schulmedizinische Wissen – weit über 100 Jahre alt wurden.

Es ist unübersehbar, dass diese sehr technisch ausgerichtete Form der Medizin und Betrachtung des Lebens zwar imstande ist, eine Organtransplantation vorzunehmen, sie aber kein Konzept dafür hat, wie die exorbitant ansteigenden Organschäden bei Menschen verhindert werden können. Allein die Zahl der Menschen mit Diabetes Typ I und II und derjenigen, die an einer Insulinresistenz, einer Diabetes-Vorstufe, leiden, nimmt beängstigend zu. Selbst bei Kleinkindern steigt die Rate bei Diabetes an. Mit immer neuen Medikamenten kann diese Krankheit zwar einigermaßen gehändelt werden, gleichzeitig haben Diabetes-Erkrankte aber ein schlechteres Immunsystem. Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gehören sie zur Risikogruppe, bei denen der Verlauf schwerer und die Sterberate höher ist.

Wer definiert, was ein akzeptables Medizin-Konzept ist?

Es ist höchste Zeit, die kolonialistische und rassistische Brille gegenüber Menschen mit einem anderen Lebens- und Medizinkonzept abzunehmen. In der feministischen Debatte im Jahr 2022 wird beispielsweise der intersektionalen Perspektive eine große Bedeutung zugesprochen. Gemeint ist damit, dass sich Formen der Unterdrückung und Benachteiligung nicht einfach aneinanderreihen lassen, sondern in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen Bedeutung bekommen. Für mich stellt sich die Frage, wie wir uns die Deutungshoheit anmaßen können, was Unterdrückung und Benachteiligung für die ganze Menschheit ist, und darüber hinaus gleich noch zu definieren, wie der Weg heraus auszusehen hat – und das alles, ohne im besonderen Maß Betroffene in den Prozess miteinzubeziehen. Es gibt natürlich Rassismus und Ausgrenzung gegenüber einzelnen Menschen oder Personengruppen, die sich in Bezug auf Hautfarbe, Herkunft im sozialen Sinn gesehen, sexuelle Orientierung usw. von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und deswegen Ausgrenzung und Abwertung erfahren. Aber sehr viel weitreichender funktioniert diese Ausgrenzung gegenüber Menschen, die aufgrund ihres spirituellen Denkens eine antikapitalistische Haltung haben. Ich hatte bislang neben den indigenen Menschen aus dem Hochland von Chiapas Kontaktmöglichkeiten zu dem Volk der Bribri in Costa Rica und Mapuches in Chile, die noch eingebunden sind in ihre spirituelle Weltsicht. Für alle ist die Vorstellung, Menschen hätten das Recht, sich Teile der Welt wie den Boden, das Wasser, die Luft oder die Heilpflanzen anzueignen, Ausdruck einer zutiefst kranken Sicht auf die Welt und die eigene Person. Ganz besonders wichtig für unseren Diskurs hier ist ihre große Botschaft: Diese Erde wird für künftige Generationen nur bewohnbar bleiben, wenn wir uns von einem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verabschieden, das Menschen einräumt, andere Menschen, Natur, Teile des Planeten und neuerdings auch des Kosmos zu besitzen und auszubeuten. Und dafür mörderische Kriege zu führen, wie jetzt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Wir im Kapitalismus sozialisierten Menschen erheben keine Einwände gegen die allgegenwärtige praktizierte Aneignung einiger Weniger, denn wir betrachten diese Aneignung als normal. So hat sich beispielsweise Tesla-Chef Elon Musk nicht nur ein riesiges Gelände in einem Wasserschutzgebiet in Brandenburg angeeignet, sondern auch gleich noch den Weltraum. Musk gründete eine private Weltraumfirma SpaceX und schickte die erste nur mit Laien besetzte Mission in die Erdumlaufbahn. Laut dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt verursacht allein der Start einer Weltraummission 380 Tonnen an CO2. Pro Weltraumtourist entspricht dies 100 Transatlantikflügen von Zürich nach New York. Von der Zerstörung der Ozonschicht mit jedem einzelnen Flug mal ganz zu schweigen.1 In der indigenen Weltsicht, der Kosmovision der Maya, ist ein solcher Raub an der Lebensgrundlage für die kommenden Generationen, ein Ökozid, nicht denkbar.

Die indigenen Menschen aus dem Hochland von Chiapas, die ich kennengelernt habe, haben sich alle als Teil des Kosmos verstanden. Um Hebamme oder Heiler*in zu sein, bedarf es ihrer Meinung nach eines göttlichen Rufes. Diejenigen, die diese Aufgabe der gesundheitlichen Versorgung ihrer Mitmenschen übernehmen, bekommen keinen Lohn, sondern, je nach Möglichkeit der Familie der Erkrankten oder auch der Gebärenden, Lebensmittel, manchmal auch kleine Geldbeträge. Da sie nicht in den Kriterien einer kapitalistischen Warenwelt denken, sind sie mit dieser Welt solange zufrieden, bis die kapitalistische Welt in ihre einbricht und die Quelle, die sie mit Wasser versorgt und die Felder, auf denen sie ihren Mais und ihr Gemüse anbauen, privatisiert und Genmais anbaut. Ebenso ausgeraubt wird ihr großes Pflanzenwissen mit der hohnlachenden Attitude, die industrialisierte und atheistisch denkende Welt, die fast ausschließlich auf technische Lösungen setzt, sei die einzig vernünftige. Die Menschen aus dem Hochland von Chiapas, die ich kennengelernt habe, wollten vor allem eines: Ein Ende der materiellen Aneignung ihrer Lebensgrundlage. Vor einiger Zeit gab es einen Skandal: Eine Modefirma hatte sich die farbenfrohen mexikanischen Stoffe angeeignet. Ganz klar ist das eine kulturelle Aneignung. Aber ihre vernichtende Wirkung entfaltet sie nicht unbedingt dort, wo Menschen mit mexikanischen Blusen herumlaufen oder – in einem anderen Kontext – mit Dreadlocks, sondern da, wo die Gesetze des Handels allein und ausschließlich von der reichen Welt und denen, die dort herrschen, definiert werden. Die Idee, die ganze Welt einem Warendenken zu unterwerfen, widerspricht in jeder Hinsicht indigenem Denken. Patente auf Heilpflanzen und medizinischem Wissen anzumelden, Wasser, Luft und die Erde zu privatisieren und das mit Waffengewalt gegen die Träger*innen dieses Wissens und denjenigen, die den Boden bebauen, durchzusetzen, das ist Kolonialismus. Und der basiert immer auf der Anmaßung, der klügere Teil der Menschheit zu sein, dessen Denk- und Lebensweise, dessen Sprache für alle zu gelten haben – auf die Sprache bezogen also eine Welt-Sprachregelung, der sich auch die seit Jahrhunderten kolonialisierten Menschen zu unterwerfen haben.

Um nicht in diese paternalistische Umgangsweise zu verfallen, haben wir unsere Texte gegendert, die übersetzten Publikationen, die den Hauptteil dieses Buches ausmachen, jedoch weitgehend so belassen, wie sich unsere Brüder und Schwestern von OMIECH erklären.

Gesundheitspolitische Dimension

Bei einer Geburt, aber auch bei jeder Behandlung eines kranken Menschen, ist in der indigenen Medizin das Gebet für die Seele des*r Patient*in oder der Gebärenden die Grundlage. „Es ist ganz wichtig, dass die Seele sich nicht verirrt, dass sie geschützt wird“, berichten die curanderas. Ich kann mir gut vorstellen, mit welcher anderen Kraft sich eine werdende Mutter dem Gebären widmet, wenn sie sich sicher und geborgen fühlt und die Zuversicht hat, dass ihr auch die göttliche Macht beisteht.

Die Kaiserschnittrate in Deutschland sagt viel darüber aus, wie hier versucht wird, die existenziellen Situationen des Lebens zu beherrschen. Die Zahl der Kaiserschnitte steigt stetig an und liegt für das Jahr 2020 bei etwas über 30% aller Geburten. Dabei nimmt auch die sogenannte „Wunschsektion“ zu. Bei Gesprächen, wie es zum Kaiserschnitt gekommen war, erzählten mir Mütter, dass die Geburt nicht vorangegangen sei und sie aus Angst, das Kind könne einen Schaden erleiden, einem Kaiserschnitt zugestimmt hätten. Bei Frauen mit medizinischer Ausbildung war die von Beginn der Schwangerschaft existierende Angst vor einer möglichen Schädigung des Kindes der Hauptgrund für die Entscheidung zu einem Kaiserschnitt. Die moderne Geburtshilfe ignoriert, wie wichtig es ist, Gebärende darin zu unterstützen, der eigenen Kraft zu vertrauen. Stattdessen setzt die Fixierung auf Normwerte oft eine Spirale der Angst in Gang, an dessen Ende massive invasive Eingriffe in die Geburt stehen. Und auch wenn der Einsatz solch massiver Mittel in den Geburtsprozess scheinbar ohne Folgen bleibt, ist angesichts des neuen Wissens um die epigenetische Weitergabe von Traumata davon auszugehen, dass Mutter und Kind lange, vielleicht für immer, an dieser Erfahrung tragen werden.

Unbenommen ist dieser Eingriff die Ultima Ratio bei drohender Gefahr für das Leben von Mutter und Kind. Indem jedoch die seelischen Folgen solcher Eingriffe ignoriert werden und uns gleichzeitig immer bessere technische Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, verlieren wir als Gesellschaft das Gefühl dafür, wann welche Interventionen zwingend notwendig sind, und wann eine gute Begleitung der Gebärenden der bessere Weg ist. Mittlerweile spricht selbst die WHO davon, dass zu oft und zu massiv in den Geburtsprozess eingegriffen wird.

Aus einer Publikation von OMIECH:

„Die alten Maya Priester-Heiler, unsere Großväter, wünschten sich, dass ihr Wissen nicht verloren ginge. Sie lehrten uns in unseren Träumen die Fähigkeit des Heilens. Die Krankheit ist Resultat eines Verhaltens, das nicht mit den Regeln der Gemeinschaft zu vereinbaren ist. Die Seele löst sich vom Körper, sie entfernt sich und oftmals verliert sie sich an den heiligen Orten. In dieser unsichtbaren Welt, bewohnt von Lebewesen, die sich von den Menschen sehr unterscheiden; an diesen Orten wird sie gefangen genommen.“ (Quelle: Veröffentlichung von OMIECH)

Ich habe in meiner Praxis viel mit an Brustkrebs erkrankten Frauen zu tun gehabt. Deswegen bin ich mir sicher: Würde ihnen und ihrer Seele mehr Beistand gegeben, und wären sie nicht nur – wie es heute Realität ist – dem Schock der Diagnose und des Traumas durch schulmedizinische Therapien ohne weitere Unterstützung ausgesetzt, wäre der Heilungsverlauf für sehr viel mehr Frauen besser. Als Heilpraktikerinnen wissen wir um die Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele. Und trotzdem, auch wir leben in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft und einer Welt, in der fast alles Ware ist. Selbst als Kritikerinnen dieser gesellschaftlichen Strukturen unterliegen wir zumindest in unserem Unterbewusstsein den hier herrschenden Werten, Normen und Vorstellungen. Wir haben so wenig Glaube an und Vertrauen in eine höhere kosmische Ordnung, wir misstrauen den energetischen Prozessen des Lebendigen und benötigen deshalb Sicherheit durch Apparate und Kontrollen. In den Veranstaltungen mit den curanderas ist dieser Unterschied fühlbar geworden. Wie kann es einen sicheren Schwangerschaftsverlauf ohne Ultraschall und vaginale Untersuchung geben? Wie, ohne ständig die Eisenwerte und andere Blutwerte der Schwangeren zu kontrollieren und mit Medikamenten einzuwirken? Und wie kann eine Geburt sicher gelingen, ohne Wehenschreiber, Periduralanästhesie und Kaiserschnitt?

In der Geburtshilfe, und erst recht bei schweren Erkrankungen, klammern sich die meisten Menschen lange an die Heilversprechen der Apparatemedizin. Um die Seele der Erkrankten wird sich wenig gekümmert, wenn überhaupt, dann nur am Rande. Dabei hat sich in neueren Fachrichtungen wie der Psychoneuroimmunologie die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Fähigkeit unseres Immunsystems ganz direkt mit dem Befinden unserer Seele zu tun hat: Dass zum Beispiel verdrängte Traumata (eine „verirrte Seele“) krank machen können – so krank, dass wir daran sterben können. Was für die Schulmedizin eine Neuerung scheint, ist für die Maya altes Wissen. Und auch in anderen Kulturen gab und gibt es dieses Bewusstsein – letztlich auch bei unseren europäischen Ahn*innen.

Biopiraterie, Gene Drive und die Genschere

Bei aller Wissenschafts- und Kulturkritik geht es nicht nur darum, indigenes Wissen zu verbreiten, sondern auch, es zu schützen – und ebenso die Natur. Das Gebiet im Süden von Mexiko (Chiapas) gehört mit der Pflanzen- und Tierwelt zu den artenreichsten der Welt. Vor allem bei den indigenen Völkern gibt es dort ein ungeheures Wissen über die Heilwirkung dieser Pflanzen und Tiere. Diese Tatsache haben die großen Konzerne längst erkannt. Immer auf der Suche nach Neuem, was auf diesem Planeten zu Geld gemacht werden kann, sind die Pharmakonzerne seit den 90er Jahren auf der Jagd nach dem indigenen Heilwissen und den natürlichen Ressourcen, die sie – alsbald patentiert – zu ihrem Besitz machen. Schon das widerspricht jeglichem Denken der Indigenas: Pflanzen – ihre heiligen Pflanzen – in Monokulturen anzubauen und zu einer Ware zu machen, ist jenseits der Vorstellungskraft der indianischen curanderas.

Ende der 90iger Jahre erlebten auch die Menschen im Hochland von Chiapas diese Art der Raubzüge am eigenen Leib. Unter dem Namen ICBG Maya-Projekt wurden unter Leitung des amerikanischen Anthropologen Brent Berlin von der US-amerikanischen Universität Georgia die traditionell genutzten Heilpflanzen Chiapas auf ihre Verwertbarkeit als Medikament erforscht. Dieses Projekt der Bioprospektion, d.h. der systematischen Untersuchung der biologischen Vielfalt und der Anwendungsbereiche von Medizinalpflanzen, wurde in Kooperation mit der mexikanischen Universität ECOSUR und der britischen Firma Molecular Nature organisiert. Wissenschaftler*innen und Anthropolog*innen schwärmten im Auftrag des ICBG Maya-Projektes in die Dörfer im Hochland von Chiapas aus, unter der Fahne „Schützen und bewahren wir unsere botanische Vielfalt und das Wissen über die Heilpflanzen von Chiapas“. Sie notierten sich die Behandlungsrezepte und die darin verwendeten Heilpflanzen der Maya-Heiler*innen und Hebammen und sammelten gleich noch die beschriebenen Pflanzen. Diese wurden für Gensequenzierungen in die USA geschickt, man war auf der Suche nach neuen Wirkstoffen und profitablen Rohstoffquellen. Abgesehen von ein paar Pesos wurden die Heiler*innen im Weiteren nicht an den zukünftigen Gewinnen aus ihrem Wissen beteiligt.

Möglicherweise verstanden einige, die an dieser Geschichte mitgewirkt hatten, nicht, dass sie sich an einem neuen Akt eines kolonialen Raubzuges beteiligt hatten. Diese Geschichte steht nur stellvertretend für den fortgesetzten kolonialen Raubzug unserer heutigen Wissenschaft an altem Heilwissen. Über 100 Pflanzen wurden damals für eine Auswertung als Medizinrohstoffe in die USA geschickt. In Fall der Heilpflanzen von Chiapas gab es ein kleines Happy End, denn die indigenen Heiler*innen und Hebammen hatten sich in der Organisation COMPITCH gegen eine Aneignung zusammenschlossen. Es gelang ihnen tatsächlich, eine weitere Aneignung zu verhindern. In meinen Gesprächen mit den Menschen der indigenen Organisation OMIECH, die auch bei COMPITCH organisiert waren/ sind, erfuhr ich, dass dieser koloniale Raubzug ihnen bis heute „in den Knochen steckt“.2

Der moderne koloniale Raubzug – das Heilwissen indigener Völker

In den 80er und 90er Jahren eigneten sich große Pharmafirmen über die oben beschriebenen Formen der Biopiraterie weltweit Pflanzen- und Heilwissen an. Ihre Computer sind gefüllt mit den Gensequenzen aller Heilpflanzen, die sie in Erfahrung bringen konnten. Schritt zwei dieser Aneignung war (und ist) die Beantragung von Patenten auf Wirkstoffe, teilweise sogar auf ganze Pflanzen und lebendige Zellen. Dafür wurde das internationale Recht entsprechend zurechtgebogen. NGOs haben dazu geforscht und geschrieben, beispielsweise in dem Bericht: „Who owns nature – Wem gehört die Natur?“ Vgl. Entscheidung im Rechtsstreit. Patente auf Schimpansen gelten nicht mehr. www.Tagesthemen.de, 2.7.2020, 22:153.

Neben dem Import der Heilpflanzen aus den Herkunftsländern ist zunehmend eine neue Form der Ausbeutung getreten. Neue Untersuchungsmethoden erlauben es immer besser, die Wirkstoffe einer Heilpflanze herauszufinden und synthetisch nachzubauen. So geschehen ist das bei einer altbekannten Heilpflanze aus Borneo, einem Mahagonigewächs, Aglaia foveolata. Das Gewächs enthält antivirale Pflanzenwirkstoffe und stellte sich als eine Behandlungsoption in der Corona-Pandemie heraus. Unter dem Namen Remdesivir patentiert, ist dieses Medikament eine der neuen Goldadern der modernen Biopirat*innen.

Für ihre bahnbrechende Entdeckung der Genschere erhielten die beiden Mikrobiologinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2020 den Nobelpreis für Chemie. Die Genschere ist eine in der Natur (von Bakterien) vorkommende Verteidigungsstrategie gegen virale Eindringlinge. Mit dieser können auch künstlich bestimmte Abschnitte aus dem Genom lebendiger Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen herausgeschnitten und andere eingefügt werden. Doch dieses Instrument in den Händen gewinnorientierter Firmen und politischer Systeme, die diese Aneignung mit aller Macht schützen, lassen Befürchtungen laut werden, dass damit die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Wir können beispielsweise einen Blick auf die ganzen unsäglichen Tierversuche werfen. Noch heute werden mit unfassbarer Grausamkeit Tiere gequält. Begründet wird es damit, dass man auf diese Weise schwerkranken Menschen helfen wolle. Dies ist in meinen Augen eine fadenscheinige Begründung, denn wie an anderen Stellen ausgeführt, könnten viele Krankheiten vermieden werden: durch gute Lebensbedingungen in einem sozialen Umfeld, in dem der/ die Einzelne Liebe und Wertschätzung erfährt. Zum anderen ist es ein sehr fragwürdiger Umgang mit Lebewesen, als erlaube ein hehres wissenschaftliches Ziel, Tiere allen möglichen Qualen auszusetzen. Ist es nicht so, dass dieser hochpsychopathische Umgang mit anderen Lebewesen als Wissenschaft, ja, als einzig auf dem Boden der Rationalität stehende Herangehensweise, hingestellt wird? Ein jüngstes Beispiel sind Genveränderungen an Tieren, auf die dann Patente erteilt werden. Im Juli 2020 widerrief das Europäische Patentamt zwei Patente auf Schimpansen, denen DNA von Insekten ins Erbgut geschleust wurden.4 Es ist skandalös, dass überhaupt solche Patente erteilt wurden und werden, und die Menschen es sich herausnehmen, so über das Leben und den Körper eines anderen Lebewesens zu verfügen. Neben genetischen Eingriffen in einzelne Pflanzen, Tiere und Menschen hat die Genschere einen Eingriff in die Evolution möglich gemacht. Diese neue Technik wird Gene Drive genannt und ermöglicht, dass unerwünschte Eigenschaften eines Tieres, einer Pflanze (und eines Menschen) für alle zukünftigen Nachkommen eliminiert bzw. erwünschte erzeugt werden, indem die Genschere direkt ins Genom eingebaut wird. Dies wird dann vererbt.

Können wir die Biopiraterie aufhalten?

Die Herausgabe der übersetzten Broschüren der Heiler*innen und Hebammen von OMIECH begann aus dem Wunsch, ihr Wissen vor Biopiraterie zu schützen. Wir alle, die an dieser Herausgabe mitgearbeitet haben, hatten und haben den großen Wunsch, unsere Schwestern und Brüder, soweit es uns möglich ist, vor diesem neuen kolonialen Raubzug zu schützen, denn schriftlich dokumentiertes Heilwissen hat im kapitalistischen Rechtssystem eine etwas bessere Chance, vor Enteignung geschützt zu werden. Wenn wir uns aber die Entwicklungen auch im Hochland von Chiapas anschauen, dann haben die Menschen dieser aggressiven Aneignung wohl kaum etwas entgegenzusetzen. Eine Strategie ist es, den meist in prekären Verhältnissen lebenden alten Hebammen im Hochland eine kleine Rente anzubieten, wenn sie ihr Wissen nicht weitergeben. Oder, wie ich 2009 in San Cristobal mit Entsetzen beobachten musste, dass die ebenso in prekären Verhältnissen lebenden indigenen Frauen aus dem Hochland ebenfalls regelmäßig eine kleine Summe Geld dafür erhielten, dass sie zur Geburt nicht zu einer der traditionellen Hebammen gingen, sondern in die Stadt ins Krankenhaus. Und dass sie sich regelmäßig auf Zellveränderungen am Muttermund untersuchen lassen sollten, im Krankheitsfall jedoch keine Behandlung erhielten. Da bei einer Krankenhausgeburt und auch den HPV-Untersuchungen keine Rücksicht auf den kulturellen Umgang mit dem eigenen Körper genommen wurde und wird, und diese von den Frauen wie eine Vergewaltigung erlebt wird, führt dies zu einer weiteren Zerstörung ihres Weltbildes, der Kosmovision Maya. All das zerstört die Menschen seelisch, und es zerstört die indigene Kultur, ihr Wissen. Und dies in einer Zeit, in der wir westlichen, und vor allem kapitalistisch sozialisierten, Menschen des reichen Nordens dringend von der Weisheit indigener Völker lernen müssten, denn unsere Lebens- und Denkweise zerstört die Lebensbedingungen auf diesem Planeten in Windeseile.

Extrakapitel zu den Übersetzungen

Mit der freundlichen Genehmigung von OMIECH haben wir 2014 damit begonnen, publizierte Bulletins und Broschüren über die von ihnen praktizierte Medizin der Maya zu übersetzen. Immer wieder kamen wir auf ihre Befürchtungen zu sprechen, dass wir, ebenso wie sie das 1998 erleben mussten, uns ihr Pflanzenwissen aneignen könnten. Diese Befürchtungen konnten und können wir sehr gut verstehen, denn wie in all den Jahren zuvor erleben sie auch im Jahr 2022 die meisten Menschen aus den kapitalistischen Ländern als selbstverständliche Aneigner*innen ihres Wissens und ihrer Praktiken. Und gleichzeitig mangelt es meist am Respekt gegenüber ihrer spirituellen Weltsicht.

Wir haben versucht, ihre Veröffentlichungen möglichst wortgetreu zu übersetzen und jede einzelne Broschüre mit dem Original-Deckblatt kenntlich zu machen. Manche Themen wiederholen sich, und bei manchen der auf tzotzil oder tzeltal bezeichneten Pflanzen konnten wir nicht sicher den wissenschaftlichen Namen angeben. Zum Teil können wir auch die im Original genannten Pflanzen nicht sicher der jeweiligen indigenen Sprache zuordnen. Auch können wir die manchmal auf tzotzil, manchmal auf tzeltal bezeichnete Pflanzen nicht eindeutig zuordnen. Unter dem jeweils im Original angegebenen Pflanzennamen haben wir in Klammern den botanischen, spanischen, tzotzil/ tzeltal und den deutschen Namen hinzugefügt. In manchen Fällen ist die botanische Zuordnung über andere Kräuterbücher von OMIECH möglich gewesen, manchmal nur wahrscheinlich und bei einigen wenigen Pflanzen könnten wir sie nicht herausfinden.

Das erscheint uns aber auch nicht so wichtig, denn dieses Buch soll nicht dazu dienen, dass wir mit den mexikanischen Pflanzen verhüten oder eine Geburt begleiten. Wir wünschen uns, dass mehr Menschen angesichts der tiefen Weisheit der Kosmovision Maya und der Medizin der Maya unseren angstgetriebenen und auf technische Lösungen setzenden Umgang mit Krankheit und Gesundheit, und letztlich mit Leben und Sterben, etwas relativieren können. Wir sollten dringend auf unsere indigenen Brüder und Schwestern hören, denn zur Lösung der immer drängenderen Probleme brauchen wir mehr Kosmovision Maya.

Danksagung

Ich danke meinen Freund*innen von OMIECH dafür, dass sie Vertrauen in uns und dieses Buchprojekt haben. Juan Vázquez Gutierrez (presidente omiech), Hermelindo Díaz Gómez (secretario omiech) Antonio Gonzales López (tesorero omiech), Micaela Ico Bautista (responsable de área de mujeres y parteras omiech), José Encinos López (administrador omiech), Agripino Ico Bautista (responsable y dirección del Museo de la Medicina Maya tsotsil-tseltal), Antonio Pérez Méndez (hierbero), Benito Ruiz Álvarez (ilol – plusador y sanador), Florinda Jiménez Luna (responsable de área de herbolaria), Marco Antonio Pérez Ruiz (técnico chofer), Juana Pérez Áreas.

Ganz besonders verbunden bin ich Micaela Ico Bautista, der Verantwortlichen des Bereichs der Frauen und Hebammen, und Agripino Ico Bautista, Bruder von Micaela, Filmemacher und unablässig darin aktiv, dem Projekt OMIECH eine Zukunft zu geben.

Ich danke von ganzen Herzen der Hebamme und curandera aller Kategorien, Dona Margareta Perez-Perez aus Chenalhoe, die ein so weiser wundervoller Mensch war. Sie hat diese Welt und uns alle im September 2021 verlassen. Ich danke der Hebamme Dona Andrea aus Simojovel, unter deren Obhut seit Jahrzehnten viele Kinder sanft und behütet das Licht unserer Welt erblicken. Und sanft und behütet begleitet sie auch die Gebärenden.

Ich danke Anne-Kathrin Ziebandt, meine wunderbare Heilpraktiker-Kollegin, die ein Teil der Reisegruppe im Januar 2019 gewesen ist. Sie übersetzte den größten Teil der vorliegenden Publikationen von OMIECH aus dem Spanischen ins Deutsche und hat damit einen sehr großen Anteil an dem Buchprojekt insgesamt. Wir haben so viel Material, dass wir im Anschluss mit dem zweiten Band beginnen werden. Über ihre Motivation, sich an diesem Projekt zu beteiligen, wird sie in diesem Buch selbst zu Wort kommen.

Ich danke Mathilde, die Anne und mich auf meiner Reise 2019 nach San Cristobal de las casas begleitet hatte, sich für dieses Projekt engagierte und das Interview mit Micaela am Ende des Buches machte und übersetzte.

Ich danke meiner wunderbaren Reisegruppe von 2019, Ingrid Braune, Cora Schäfer, und den drei aus Longo Mai, Miria, Christine und Mathilde.

Ich danke meinen Kolleginnen aus der Lachesis-Redaktion Esther Krais-Gutmann und Flora Heinlein, die das Lektorat dieses Buches unter ihre Obhut nahmen. Und Cora Schäfer für ihre Fähigkeit, aus einem Sammelsurium von Texten ein Buch zu gestalten.

Ich danke Sarah, die mit der Übersetzung des ersten Textes begonnen hatte und weiteren, hier ungenannten Kolleginnen, die in der einen oder anderen Weise dazu beigetragen haben, dass das Projekt umgesetzt werden konnte.

Ich hoffe sehr, dass wir gegenüber unseren indigenen Schwestern und Brüdern dieser Welt unsere kolonialistisch geprägte Sichtweise ablegen, und ihnen und ihrem großartigen Wissen über diese Welt und darüber, wie wir gesunden können, auf Augenhöhe begegnen.

1 Vgl. Martin Zips: Gestern Yacht, heute All. Süddeutsche Zeitung, 17.9.2021, S. 10

2 Vgl. Uta Wagenmann: Es wurde nie gerecht geteilt. www.lateinamerika-nachrichten.de, Nr. 370, April 2005

3 Vgl. Entscheidung im Rechtsstreit. Patente auf Schimpansen gelten nicht mehr. www.Tagesthemen.de, 2.7.2020, 22:15

4 Vgl. Martin Zips: Gestern Yacht, heute All, Süddeutsche Zeitung, 17.9.2021, S. 10